Hermó

Espaço de reflexão Hermógenes de Castro & Mello

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Artigo nº 7 - 18/11/2022

Die Bucklige

Ich habe meinen Grossvater nicht gekannt. Ich schätze mein Vater auch nicht. Eine interessante Geschichte, denn 1922 kam aus der Blitz-Liason meiner Grossmutter, damals 28 Jahre alt (ledig, unüblich für Alter und Zeit könnte man meinen…) mit einem sehr jungen Mann, na ja, mit 16 praktisch noch pubertär, ein Kind zur Welt. Vater!

Ich denke, dass die Eltern des jungen Herrn, meine Urgrosseltern, die liebe ledige Frau, kurz darauf, oder schon vorher, hinausgeworfen haben. Aus gutem Grund. Sie war, so erzählte sie, das Dienstmädchen. Der Junge im Haus durfte wohl mal unerlaubt probieren, die Eltern waren sauer als ein Enkelkind sich meldete, aber doch ist es nicht so rar, dieses Geschehen. Hier in Brasilien praktisch die allgemeine Ordnung.

Gebürtig in Hattorf, bei Wolfsburg, erzählte mir sie öfters, dass sie sehr jung die grosse weite Welt kennenlernen wollte. Bis Köln-Rheydt hat sie es geschafft…

Der Grossvater wurde später nie erwähnt, wir fragten auch nicht. Als 1980 mein Vater starb, erzählte man ein wenig von ihm. Ich wurde neugierig, man recherchierte per Telefonbuch und siehe da: es gab jemanden mit gleichem Namen in Köln.

Leider zu spät, er war vor einiger Zeit verstorben. Seine Witwe bestätigte die Handschrift anhand von verträumten Briefen, die er an die schon reifere Mutter seines Kindes schrieb. Aber auch der Dame wurde nie etwas erwähnt.

Danach bestätigte mir die Universität in Würzburg er dort Medizin studierte. Aber anscheinend ohne grosse Begeisterung für das Fach, im Telefonbuch war sei Beruf mit Journalist angegeben.

Weitere Kontakte zur Witwe und Familie in Köln blieben aus, man war uns gegenüber aus natürlichen Gründen misstrauig. Es kam noch ein einsames Bild von ihm und die definitive Bitte des Rechtsanwalts um diskrete Distanz. Es wurde respektiert.

Mit 94 Jahren ist die Oma verstorben, 1988. Eine Mappe mit alten Briefen, Gedichte und einem Zeitungsausschnitt kam hervor, eine Chronik mit Titel dabei: “Die Bucklige”. Ich erlaube mir es nachstehend abzuschreiben. Wann und wo es gedruckt wurde ist nicht auszumachen, aber es ist ein sehr schöner Text. Der Grossvater konnte schreiben. Schade, dass ich ihn nicht kennengelernt habe.

,Die Bucklige

Im Sommer habe ich Llona Zsabo besucht. Die kleine schwarzhaarige Ungarin lebt als Schulmeisterin in einem Dorfe bei Kecskemet – inmitten der Heide. Die Dorfkinder sind ihr – ich sah es mit eigenen Augen- in rührender Liebe zugetan. Kein Wunder. Llona Zsabo könnte allen Schulmeistern und Schulmeisterinnen der Welt als Vorbild dienen. Sie ist den ihr anvertrauten Kindern nicht nur Erzieherin und geistige Förderin, sondern auch liebesvolle, alles verstehende Freundin. – Ein kleines Dorfmädchen sagte mir auf meine Frage, ob Fräulein Zsabo gut sei, dass es keine bessere tanitónö gebe.

Es war schon immer Fräulein Zsabos Wunsch gewesen, Dorfschulmeisterin zu sein. Das hatte sie mir vor Jahren erzählt, als ich sie fern von ihrer Heimat kennen lernte, in Paris.

An einen Maientage war´s. Um die Vesperstunde hatte ich, wie so oft nach erfüllter Tagespflicht, den “Jardin de Luxembourg” aufgesucht, jene Zaubergarten, der inmitten der weltrauschenden Seinestadt seelisch und körperlich müden Menschen Ruhe schenkt und Erholung bietet. In Gedanken versunken schritt ich über die Parkwege dahin. Ungeachtet des heiteren Tages, trotz des Grünen und Blühens um mich herum trug ich Weh im Herzen. In wenigen Tagen sollte ich Paris verlassen, und der Abschied lag mir schon schwer auf der Seele. Die Stadt war mir recht lieb geworden.-

Nach meinem gewohnten Rundgang durch den Garten näherte ich mich meiner Lieblingsbank unweit der “Chambre des Députés”. Eine junge Dame hatte dort Platz genommen. Höflich grüssend liess auch ich mich nieder. – So lernte ich Llona Zsabo kennen. -

Bald verweilten wir in angeregtem Gespräche. Sie wusste so interessant zu erzählen von allen möglichen Dingen, von ihrem Vaterlande und seiner einstigen Grösse, von der Fata Morgana der Kecskemeter Heide, von ungarischen Zigeunern und ihrer Musik, vom Petösi und seine lyrischen Gesängen. Mit verhaltenem Atem trank ich ihre Worte; ich war entzückt. – Wir waren schnell gute Freunde; und im stillen freute ich mich schon darauf, Llona Zsabo in den wenigen Tagen, die meines Bleibens in der französischen Hauptstadt noch waren, des öfteren zu sehen.

Die letzten Strahlen der untergehenden Sonne suchten zitternd über die Wipfel und wichen langsam der herankriechenden Dämmerung. Am Himmel funkelte der Abendstern.- Ich lud Llona zu einem Spaziergang über den benchbarten Boulevard St. Michel ein. Sie lehnte dankend ab.

Nachtschatten senkten sich hernieder. – Tiefe Stille hersschte um uns. Nur hin und wieder vernahm man das Gehupe der über den Boulevard dahinrasenden Automobile. -

”Wir wollen gehen, Mademoiselle Zsabo!”
”Bleiben wir noch”, sagte sie zitternd.

Es war mir unverständlich, warum Llona Zsabo noch blieb.
Wenige Augenblicke später vernahmen wir Schritte. Der Gartenaufseher kam und bedeutete uns mit seinem “On ferme, Messieurs-dames”, dass nunmehr der Jardin de Luxembourg geschlossen würde.

Ein Blick in das Antlitz meiner Nachbarin... jähe Röte bedeckte ihre sonst so bleichen Wangen. Sie erhob sich und… was ich sah, erschütterte mich tief:
Llona Zsabo war bucklig.
Unsägliches Mitleid erfasste mich. “Nur sie nichts merken lassen”, war mein einziger Gedanke.
Ich nahm mich zusammen, bot ihr meine Arm, und wir verliessen schweigend den Garten. -
Am Pantheon verabschiedeten wir uns. Wir reichten uns die Hände, nachdem wir für einige Tage später ein Stelldichein verabredet hatten.

Und Llona kam. – Glückselig lächelnd nahm sie die für sie bestimmten Blumen aus meiner Hand entgegen.”Wenn Sie jemals ins Ungarnland kommen”, so sprach sie mir zum Abschied die Hand reichend, “ so müssen Sie mich besuchen.”

Zwei Tage später verliess ich Paris.

Das Schicksal wollte es, dass ich im Sommer Llona Zsabo in ihrer Heimat wiedersah. Wir sassen am Abend vor dem am Dorfrande gelegenen Schulhause, blickten hinaus in die bunte Heide und tauschten Erinnerungen aus.

”Erinnern Sie sich noch der Vesperstunde im Luxemburger Garten?” fragte Llona. “Damals waren Sie so gut zu mir.”

Dann schwiegen wir beide, aber wir verstanden uns.'

Der Original-Artikel. Aber wo und wann gedruckt, schlecht zu sagen...

Die Rückseite: ein Bericht über die Prohibition in den USA, also Ende 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts.

Das einzige Bild meines Grossvaters. Der Schnurbart in der Art und Zeitabschnitt war wohl sehr üblich...

Der Jardin de Luxembourg, bis heute sehr schön.

In der Kecskemet Heide (Ungarn), wo Llona Zsabo lebte.

Comentários

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Werner (84) - 29/03/2012 (16:03)

Eine ergreifende Erzählung, besonders für den der das Leben und die Menschen kennt und schon viel durchgemacht hat. Herzlichst WSR